Reporter ohne Grenzen (RSF) hat die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aufgefordert, die Gewalt gegen Medienschaffende in Kasachstan zu untersuchen. Bei den Protesten der vergangenen Tage kam es seitens der Polizei und anderer Akteure im ganzen Land zu Übergriffen gegen Journalistinnen und Reporter. Medienschaffende wurden bedroht, verhaftet und teils mit Waffengewalt daran gehindert, die Unruhen und die Auswirkungen des Schießbefehls auch gegen Zivilpersonen journalistisch zu dokumentieren.
„Die Gewalt ist abgeebbt, aber die Bedrohung für die Medienfreiheit ist noch lange nicht vorbei“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Auf mehrere Journalisten wurde mit scharfer Munition geschossen. Wir haben deshalb die UN und die OSZE offiziell über die Gefährdung der Pressefreiheit informiert. Wir fordern zudem die kasachischen Behörden auf, ausländischen Reporterinnen und Reportern die Einreise zu gestatten und von jeglichen Versuchen, die Berichterstattung zu zensieren, Abstand zu nehmen.“
Unter den offiziell 164 Menschen, die während der Unruhen getötet wurden, war auch Muratchan Basarbajew, der Fahrer eines Teams von Almaty TV. Das Team folgte am Abend des 6. Januar einem Staatskonvoi zum Rathaus von Almaty, der größten Stadt Kasachstans. Gegen 23 Uhr geriet der Konvoi in der Nähe des Platzes der Republik unter Beschuss. Basarbajew war sofort tot. Weitere Schüsse trafen den Techniker Diasken Baitibaew an der rechten Hand, er verlor zwei Finger. Almaty TV ist ein regierungsfreundlicher Sender. Das Team war vom Bürgermeister der Stadt eingeladen worden, eine TV-Ansprache aufzunehmen. Eigentlich habe deren Botschaft lauten sollen, dass die Unruhen vorbei und die Ordnung wiederhergestellt sei. Doch mit den zunehmenden Zusammenstößen zwischen gewaltbereiten Gruppen und den Sicherheitskräften mit offiziellem Schießbefehl stieg auch die Zahl an Übergriffen gegen Medienschaffende dramatisch an.
Verhaftungen und Durchsuchungen
Lukpan Achmedjarow, ein Redakteur der regionalen Wochenzeitung Uralskaja Nedelja, wurde am 7. Januar auf dem Weg zur Arbeit in der Stadt Oral verhaftet und wegen „Teilnahme an einer Demonstration“ zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt. Sein Einspruch, er habe über die besagte Demonstration berichtet, wurde am 10. Januar abgelehnt. Achmedjarow wurde in der Vergangenheit häufig von den Behörden verfolgt und bereits am 5. Januar von der Polizei verhört.
Ebenfalls seit dem 7. Januar wird Darin Nursapar festgehalten, Redakteur der Nachrichtenportals Altainews im Osten des Landes. Die Website gehört zum staatlichen Medienunternehmen Shygys Akparat, das allen seinen Mitarbeitenden die Teilnahme an Protesten verboten hatte. Dennoch entschied sich Nursapar, dass es seine journalistische Pflicht sei, zu berichten. Er wurde in seiner Wohnung verhaftet und zwei Tage später zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt.
In Aktobe durchsuchte die Polizei am 9. Januar die Wohnung von Ardak Erubaewa, einer Reporterin der unabhängigen Nachrichtenseite Orda, und nahm sie ohne Angabe von Gründen fest. Stanislaw Obischchenko, ein in Almaty ansässiger freiberuflicher Reporter des russischen Staatsfernsehens RT, wurde nach seiner Verhaftung am 8. Januar ebenfalls mehrere Stunden lang festgehalten.
Gewalt und Behinderung journalistischer Arbeit
Neben dem Risiko, willkürlich verhaftet zu werden, sind Medienschaffende vor Ort auch körperlicher Gewalt durch die Sicherheitskräfte ausgesetzt. Ein vor dem Leichenschauhaus von Almaty postierter Uniformierter feuerte am 8. Januar mehrere Schüsse in Richtung der Füße zweier Journalisten ab: Wasili Polonski, Reporter des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd, der den Soldaten dabei gefilmt hatte, wie er einen Mann zusammenschlug, und Wasili Krestianinow, Reporter der unabhängigen investigativen Nachrichtenseite The Insider. Beide Journalisten konnten unverletzt entkommen.
Der freiberufliche Fotograf Almaz Toleke musste am 5. Januar mit einer Schussverletzung am Bein ins Krankenhaus eingeliefert werden. Soldaten hatten in der Nacht in Almaty auf sein Auto geschossen, mit dem als Reporter unterwegs war. Obwohl Toleke die notwendigen Genehmigungen bei sich hatte, um sich während der Ausgangssperre im Freien aufzuhalten, geriet er in Panik und gab Gas, als die Soldaten ihn aufforderten, anzuhalten.
Auch Jesenzhol Jelekenow, ein Mitarbeiter von Uralskaja Nedelja, musste ärztlich behandelt werden. Er wurde am 5. Januar in Oral von Sicherheitskräften geschlagen, verhaftet und anschließend drei Stunden lang festgehalten. Wie RSF bereits berichtete, wurden mehrere weitere Medienschaffende bei ähnlichen Maßnahmen in anderen Teilen des Landes verletzt.
Die Gewalt gegen Journalistinnen und Reporter ging zum Teil auch von randalierenden Gruppen aus. Am Nachmittag des 5. Januar stürmten Protestierende ein Gebäude auf dem Platz der Republik in Almaty, in dem sich die Büros von fünf Fernsehsendern befanden: die staatlichen Sender Kasachstan und Khabar, die privaten, regierungsnahen Sender Eurasia und KTK sowie Mir 24, ein von der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) betriebener Sender. Die Randalierer plünderten die Büros, zerstörten Ausrüstung, sperrten die Mitarbeitenden fast eine Stunde lang in ihren Büros ein, bevor sie sie freiließen, und setzten dann das Gebäude in Brand.
Verdächtigungen, Beleidigungen, Schläge
Almaz Kaysar, ein Fotojournalist der Nachrichtenwebsite Vlast, filmte am 5. Januar Demonstrierende in Almaty, als er von maskierten und mit Stöcken bewaffneten Personen umzingelt wurde. Obwohl er eine Presseweste trug, wurde er verdächtigt, für die Sicherheitsdienste zu arbeiten. Sie entrissen ihm das Handy und warfen es auf den Boden. Um seine Arbeit weitgehend unbehelligt fortsetzen zu können, musste er seine Presseweste ablegen, obwohl gesetzlich vorgeschrieben ist, sie zu tragen. Ebenfalls am 5. Januar wurde Farhat Abilow, ein Fotograf der Wochenzeitung Ak Zhaik, von gewalttätigen Demonstrierenden beleidigt, angerempelt und geschlagen, als er in Atyrau Zusammenstöße mit der Polizei filmte.
In Almaty bedrängten Demonstrierende zwei Journalisten der kasachischen Nachrichtenagentur KazTAG. In Aktau wurde Saniya Toyken, die Korrespondentin von Radio Azattyq, dem kasachischen Dienst des in Prag ansässigen US-Senders Radio Free Europe/Radio Liberty, angegriffen. Ruslan Prianikow, ein Fotograf der französischen Nachrichtenagentur AFP, erlitt eine Verletzung am Bein, als er in der Nacht des 4. Januar bei der Berichterstattung über Demonstrationen in Almaty von einem Auto angefahren wurde.
Um während der Unruhen ihre Kontrolle über Nachrichten und Informationen aufrechtzuerhalten, behinderten die Behörden gezielt die Arbeit der Medien. Am 10. Januar zwang die Polizei auf dem Platz der Republik in Almaty einen Reporter der unabhängigen Nachrichten-Website Orda, seine Fotos zu löschen. Er musste den Platz, einen der zentralen Schauplätze der Proteste, verlassen.
Auch der Reporter Bagdat Asylbek wurde am 5. Januar auf dem Platz festgenommen. Er hatte gefilmt, wie Mitglieder einer Spezialeinheit auf eine Gruppe von Demonstrierenden schossen. Asylbek wurde gewaltsam in einen Polizeiwagen verfrachtet, sein Presse- und sein Personalausweis wurden eingezogen. Die Polizisten wollten zunächst Fotos und Videos von seinem Handy löschen lassen; am Ende kam er jedoch frei. Ähnliches widerfuhr Serik Jesenow, einem Reporter von Uralskaja Nedelja, im Zentrum von Oral. Auch hier versuchte die Polizei erfolglos, von ihm aufgenommene Fotos und Videos von Armeefahrzeugen zu löschen, ließ letztlich aber von ihm ab.
Internetblockade und Zensur
Nachdem der Zugang zum Internet zwischenzeitlich wieder möglich war, blieb die Verbindung unsicher und brach immer wieder ab. Präsident Tokajew versprach, die Internetverbindungen in den „beruhigten“ Regionen wiederherstellen zu lassen, warnte aber, dass Verleumdungen „bestraft“ werden würden. Diese Drohung gilt vor allem für „freie“ Medien, die von Tokajew öffentlich als „demagogisch“ gebrandmarkt wurden. Beim kleinsten Fehltritt riskierten sie ein Strafverfahren, so die Warnung. Das Informationsministerium wies zudem darauf hin, dass im Rahmen des in Almaty und mehreren Provinzen verhängten Ausnahmezustands die Strafe für die „vorsätzliche Verbreitung von Falschinformationen“ von drei auf sieben Jahre Gefängnis erhöht wurde.
Nachdem das Informationsministerium in der vergangenen Woche zwei unabhängige Medien zensiert hatte, verlangte es am 10. Januar, einen Artikel über Fraktionskämpfe innerhalb der Regierung zu löschen. Daniil Kislow, Herausgeber von Fergana, einer unabhängigen, auf Zentralasien spezialisierten Nachrichtenagentur, hatte den Artikel am 7. Januar veröffentlicht. Die Fergana-Verantwortlichen weigerten sich und fragten bei den Behörden nach, welche Teile des Artikels „eine Bedrohung für die kasachische Gesellschaft und den Staat“ darstellten, wie der Vorwurf lautete. Wenige Stunden später wurde der Zugang zur Website gesperrt.
Die Regierung versucht zudem, unabhängige Berichterstattung über die Proteste und ihre Niederschlagung zu verhindern, indem sie internationale Medien vom Land fernhält. Die Behörden verzögern die Ankunft ausländischer Journalistinnen und Journalisten unter anderem mit der Begründung, die Covid-19-Pandemie erlaube das nicht.
Der Staat kontrolliert Redaktionen und Medienschaffende
Der drei Jahrzehnte lang autoritär regierende Präsident Nursultan Nasarbajew war im März 2019 zurückgetreten. Hoffnungen, dass die folgenden Präsidentschaftswahlen einen Übergang hin zu mehr Meinungsfreiheit mit sich bringen könnten, verpufften jedoch.
Der Staat hat sein Arsenal der Repression und Kontrolle umfassend modernisiert, vor allem im digitalen Raum. Staatliche Überwachung ist weit verbreitet. In den vergangenen Jahren wurden fast alle Oppositionsmedien mit Schadensersatzklagen und gezielten Angriffen auf Journalistinnen und Reporter zum Schweigen gebracht. Mehrfach sind in der Vergangenheit Blogger und Bürgerjournalistinnen verhaftet, teils für einzelne Posts für mehrere Haft ins Gefängnis gekommen oder in psychiatrische Kliniken eingewiesen worden. Als Erbe der Nasarbajew-Jahrzehnte zensieren sich viele Medienschaffende selbst. Dennoch stellen vor allem einzelne Facebook- oder Twitterkanäle von Aktivisten, Menschenrechtlerinnen oder Juristen eine wichtige Informationsquelle dar.
Reporter ohne Grenzen (RSF) / 13.01.2022
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