Angesichts schwindender Aufmerksamkeit erinnert Reporter ohne Grenzen (RSF) an das Schicksal afghanischer Journalistinnen und Journalisten, die nicht evakuiert werden konnten und in für sie gefährlichen Drittstaaten auf die Weiterreise unter anderem nach Deutschland hoffen. Vor rund zwei Monaten haben die Taliban Kabul erobert und nach zwanzig Jahren erneut die Macht übernommen. Auch wenn die akute Lebensgefahr für Journalistinnen und Journalisten aus den Schlagzeilen verschwunden ist, bleibt die Situation für die Betroffenen unerträglich. Immer noch erreichen RSF täglich Dutzende neue Hilferufe, in denen sich die Betroffenen selbst oder Verwandte und Kolleginnen und Kollegen im Ausland mit der Bitte um Unterstützung an die Organisation wenden. RSF arbeitet weiter Tag und Nacht, um ihnen zu helfen, kommt jedoch angesichts der Menge an Anfragen und der aufwändigen Verifizierung kaum noch hinterher. Erschwert wird die Situation auch dadurch, dass die Bundesregierung die Liste schutzbedürftiger Personen „geschlossen“ hat.
„Der Einsatz für afghanische Medienschaffende ist der größte Kraftakt in der Geschichte unserer Organisation. Wir helfen, sichere Reiserouten und Visa zu organisieren und betreuen die Betroffenen in Deutschland weiter. Der logistische und zeitliche Aufwand ist enorm. Dabei übernimmt RSF auch Aufgaben, die eigentlich staatlichen Stellen zukämen“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wir gehen erst einmal nicht davon aus, dass die Anfragen weniger werden. Die Arbeit fiele uns leichter, wenn das Auswärtige Amt die eigene Liste wieder ‚öffnen‘ und damit zahlreichen verzweifelten Medienschaffenden etwas Hoffnung geben würde.“
Inzwischen haben rund 150 afghanische Journalistinnen und Journalisten sowie Familienangehörige eine Aufnahmezusage durch die Bundesregierung erhalten, nachdem RSF ihre Fälle verifiziert und die Namen an das Auswärtige Amt übermittelt hat. Doch diese Freude wird durch das Wissen getrübt, dass Hunderte weitere noch auf Sicherheit warten. RSF erhält täglich rund 150 neue Nachrichten auf verschiedenen Kanälen. Die Organisation bearbeitet nach und nach alle Nachrichten und setzt verifizierte Fälle weiter auf die eigene Liste. Dabei spielt für RSF keine Rolle, ob es sich um einen bekannten und im Ausland gut vernetzten Journalisten aus Kabul handelt oder um eine Journalistin eines eines weniger bekannten kleinen Mediums aus einer Provinzstadt. Das Kernproblem jedoch bleibt, dass Auswärtiges Amt und Bundesinnenministerium ihre Liste ohne Vorwarnung „geschlossen“ haben, wodurch nach dem Stichtag 31. August keine Fälle mehr aufgenommen werden können.
Insgesamt erreichten RSF in den vergangenen zwei Monaten rund 12.000 E-Mails mit Hilferufen. Viel Arbeit macht vor allem der ausführliche Verifizierungsprozess für eingereichte Fälle. Die Organisation überprüft nach jeder Anfrage die journalistische Tätigkeit und die spezifische Bedrohungslage. Darum kümmern sich RSF-Mitarbeitende vor Ort in Afghanistan sowie in Berlin ansässige Kolleginnen, die als exilierte afghanische Journalistinnen über einen detaillierten Einblick in die afghanische Medienwelt verfügen. Sie prüfen sowohl eingereichte Dokumente als auch die öffentlich zugängliche journalistische Arbeit.
Sorge um Medienschaffende in Nachbarländern
Reporter ohne Grenzen erinnert auch an die prekären Bedingungen für afghanische Journalistinnen und Journalisten, die in Drittstaaten wie Pakistan, Tadschikistan oder den Iran fliehen konnten, es aber nicht auf eine Liste geschafft haben, die ihnen Hilfe in Aussicht stellt. Sollten ihre Visa ablaufen, müssen sie im schlimmsten Fall nach Afghanistan zurück. Doch auch die Option, in den Nachbarländern weiter im Exil journalistisch zu arbeiten, ist riskant.
Der Iran zum Beispiel steht auf der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 174 von 180 Staaten und gehört seit der Islamischen Revolution von 1979 zu den repressivsten Ländern weltweit für Journalistinnen und Journalisten. Hunderte wurden dort seitdem strafverfolgt, inhaftiert oder hingerichtet. RSF ist ein Fall eines afghanischen Journalisten bekannt, der im Iran durch seine investigativen Enthüllungen unter anderem über die Ermordung afghanischer Migranten durch die iranische Grenzpolizei als Regimegegner eingestuft wird. Die Taliban pflegen gute Beziehungen mit dem Iran, sodass eine Entführung oder Auslieferung in den Nachbarstaat nicht auszuschließen sind.
Der Journalist ist mit seiner Familie nach Tadschikistan geflüchtet, das auf der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 162 von 180 Staaten steht. Präsident Emomali Rachmon ist einer der größten Feinde der Pressefreiheit weltweit. Politischer Druck und die Folgen einer Wirtschaftskrise haben die meisten unabhängigen Medien gezwungen, entweder zu schließen oder ihren Fortbestand durch Selbstzensur zu erkaufen. Dutzende Journalistinnen und Journalisten sind ins Exil gegangen. Für ihre in Tadschikistan gebliebenen Kolleginnen und Kollegen gehören Schikanen des Geheimdienstes, Einschüchterungsmaßnahmen und Erpressung zum Alltag.
Auch nach Pakistan sind einige Medienschaffende geflüchtet. Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt das Land Platz 145. Medien in Pakistan geraten vor allem ins Visier des „Staats im Staate“ – ein Euphemismus für das mächtige Militär und die Geheimdienste des Landes. Journalistinnen und Journalisten droht Vergeltung, wenn sie mit ihrer Berichterstattung die vom Militär gezogenen roten Linien überschreiten. Zuletzt wurden Pläne der Regierung bekannt, mit einem neuen Mediengesetz eine mächtige Zensurbehörde zu schaffen.
Reporter ohne Grenzen (RSF)/ 22.10.2021