Die Europäische Kommission hat Dienstag ihr Erweiterungspaket 2021 angenommen. Es umfasst eine detaillierte Bewertung des Sachstands und der Fortschritte des Westbalkans und der Türkei auf ihrem Weg in die EU. Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Durchführung grundlegender Reformen. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission, Josep Borrell, erklärte: „Die neue Erweiterungsmethodik sieht einen leistungsorientierten Ansatz vor. Dabei liegt der Schwerpunkt stärker auf grundlegenden Reformen in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit, Grundfreiheiten, Wirtschaft und der Funktionsweise der demokratischen Institutionen.“ Die Partner müssten sie im Interesse ihrer Bürgerinnen und Bürger angehen, und um auf dem Weg in die EU voranzukommen, so Borrell. Die Bewertung der Kommission unterstreicht im Fall der Türkei die ernsten Bedenken der EU hinsichtlich der anhaltenden Verschlechterung in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Unabhängigkeit der Justiz.
Zum Westbalkan betonte Borrell: „Auf Seiten der EU müssen wir unseren Verpflichtungen nachkommen. Ohne den Westbalkan fehlt der Europäischen Union etwas. Es ist an der Zeit, dass wir zusammenkommen und gemeinsam ein stärkeres Europa aufbauen“.
Bei der Vorstellung des diesjährigen Erweiterungspakets, das die Mitteilung über die Erweiterungspolitik der EU und die jährlichen Fortschrittsberichte umfasst, erklärte Olivér Várhelyi, EU-Kommissar für Nachbarschaft und Erweiterung, die Erweiterungspolitik stelle eine geostrategische Investition in Frieden, Stabilität, Sicherheit und Wirtschaftswachstum in Europa insgesamt dar. „Es handelt sich um einen leistungsbasierten Prozess, für den wir sachliche und faire Bewertungen sowie einen klaren Fahrplan zur Beschleunigung und Vertiefung der Reformen unserer Partner vorlegen. Dies steht im Einklang mit unserer überarbeiteten Erweiterungsmethodik, die die Glaubwürdigkeit des Prozesses erhöht. Dabei stehen wir dem Westbalkan und der Türkei im Rahmen des neuen Instruments für Heranführungshilfe (IPA III) mit erheblicher finanzieller Unterstützung zur Seite. IPA III ist auch die wichtigste Finanzierungsquelle für die mit fast 30 Mrd. Euro ausgestattete Wirtschafts- und Investitionsoffensive für den Westbalkan, mit der die wirtschaftliche Entwicklung der Region und ihre Konvergenz mit der EU sowie ihre langfristige Erholung nach der Pandemie gefördert werden sollen.“
Westbalkan
Mit dem jüngsten Besuch der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der Region und auf dem Gipfeltreffen EU-Westbalkan, das am 6. Oktober 2021 in Brdo pri Kranju in Slowenien stattfand, wurde an die Partner der EU im Westbalkan das wichtige Signal gesandt, dass ihre Zukunft in der Europäischen Union liegt. Das entschlossene strategische Engagement der EU für die Region spiegelte sich in einer Reihe einschlägiger Maßnahmen mit konkretem Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger in der Westbalkanregion wider, von der laufenden Unterstützung bei der Bewältigung von COVID-19 bis hin zur Zusage umfangreicher Finanzmittel im Rahmen des Wirtschafts- und Investitionsplans, um das langfristige Wirtschaftswachstum der Region und den Übergang zu einer grüneren, stärker auf Digitalisierung und Innovationen gestützten Wirtschaft zu fördern.
Montenegro und Serbien haben der Anwendung der überarbeiteten Methodik zugestimmt. Die ersten Regierungskonferenzen mit diesen Ländern fanden im Juni 2021 statt und dienten der politischen Steuerung ihres Beitrittsprozesses.
Bei Montenegro ist gemäß der Bewertung der Kommission derzeit insgesamt Ausgewogenheit zwischen den Fortschritten im Bereich Rechtsstaatlichkeit und den Fortschritten bei den Beitrittsverhandlungen über alle Kapitel hinweg sichergestellt. Für weitere Gesamtfortschritte bei den Beitrittsverhandlungen stellt jedoch nach wie vor die Erfüllung der in den Kapiteln 23 und 24 festgelegten Zwischenbenchmarks im Bereich der Rechtsstaatlichkeit die oberste Priorität dar. Um diesen Meilenstein zu erreichen muss die Regierung ihr Engagement für die EU-Reformagenda Montenegros in der Praxis unter Beweis stellen. Dies setzt voraus, dass Montenegro seine Anstrengungen zur Lösung der noch offenen Fragen intensiviert, auch in den kritischen Bereichen Meinungs- und Medienfreiheit sowie Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, ohne dass frühere Fortschritte bei der Justizreform rückgängig gemacht werden.
Bei Serbien wird in der Bewertung der Kommission festgestellt, dass derzeit insgesamt Ausgewogenheit zwischen Fortschritten bei den Kapiteln zur Rechtsstaatlichkeit und zur Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo einerseits und Fortschritten bei den Beitrittsverhandlungen über die einzelnen Kapitel andererseits gewährleistet ist. Serbien muss die Reformen weiterhin dringend beschleunigen und vertiefen, insbesondere in den Bereichen Unabhängigkeit der Justiz, Korruptionsbekämpfung, Medienfreiheit, innerstaatliche Behandlung von Kriegsverbrechen und Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Insbesondere sollten die serbischen Behörden den Verfassungsreformprozess im Justizbereich bis Ende dieses Jahres abschließen. Weitere Fortschritte Serbiens bei der Rechtsstaatlichkeit und der Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo sind von wesentlicher Bedeutung und werden das Gesamttempo der Beitrittsverhandlungen bestimmen. Serbien muss außerdem seine Angleichung an die Außen- und Sicherheitspolitik der EU stärken. Die jüngsten Verbesserungen in dieser Hinsicht sind ein erster positiver Schritt. Die Kommission begrüßt, dass Serbien die Benchmarks für die Eröffnung der Cluster 3 und 4 erfüllt hat. Die Kommission unterstützt das Bestreben Serbiens, auf der Grundlage der erzielten Reformfortschritte so bald wie möglich neue Beitrittscluster zu eröffnen.
Albanien und Nordmazedonien erfüllen weiterhin die Voraussetzungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, beide Länder sind auf dem EU-Reformkurs stetig vorangekommen. Die Verzögerungen bei der offiziellen Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit der EU. Die Lösung noch offener bilateraler Fragen zwischen Bulgarien und Nordmazedonien muss Priorität erhalten. Es ist entscheidend, dass die EU-Mitgliedstaaten die Beratungen über die Verhandlungsrahmen unverzüglich abschließen und dass die ersten Regierungskonferenzen mit Albanien und Nordmazedonien noch in diesem Jahr so bald wie möglich stattfinden.
In Bosnien und Herzegowina wurde das strategische Ziel der EU-Integration nicht in konkrete Maßnahmen umgesetzt. Das politische Umfeld blieb polarisiert, da die politischen Führungsspitzen weiterhin spaltende Rhetorik und unkonstruktive politische Auseinandersetzungen einsetzten, was insgesamt Fortschritte bei den 14 Schlüsselprioritäten behinderte. Die Blockade der staatlichen Institutionen und die Forderungen nach einer Rücknahme der Reformen geben Anlass zu großer Sorge und können nur durch politischen Dialog überwunden werden. Ein deutlicher Rückgang der Angleichungsquote Bosnien und Herzegowinas bei der Außen- und Sicherheitspolitik der EU ist ein negatives Signal. Dennoch wurden einige wichtige Schritte unternommen, darunter die ersten Kommunalwahlen in Mostar nach 12 Jahren. Bosnien und Herzegowina muss die 14 Schlüsselprioritäten in Angriff nehmen, einschließlich Wahl- und Verfassungsreformen, und muss eine kritische Masse an Reformen erreichen, bevor die Kommission empfehlen kann, dem Land den Kandidatenstatus zu verleihen.
Im Kosovo wurde nach den vorgezogenen Parlamentswahlen im Februar 2021 eine neue Regierung gebildet, die sich auf eine deutliche Parlamentsmehrheit stützt. Die vollständige und wirksame Umsetzung des Reformaktionsplans im kommenden Berichtszeitraum wird von großer Bedeutung sein. Die Kommission hält an ihrer Bewertung vom Juli 2018 fest, nach der das Kosovo alle Benchmarks für die Visaliberalisierung erfüllt hat. Über den im Rat immer noch anhängigen Vorschlag dazu sollte dringend entschieden werden.
Ein umfassendes, rechtsverbindliches Normalisierungsabkommen mit Serbien ist dringend erforderlich, damit das Kosovo und Serbien auf ihrem jeweiligen Weg in die EU weiter vorankommen können. Belgrad und Pristina müssen sich konstruktiv an einem entsprechenden Dialog beteiligen, der vom Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell und dem EU-Sonderbeauftragten Lajcak unterstützt wird.
Alle sechs Partner im Westbalkan haben sich verpflichtet, auf der Grundlage der EU-Vorschriften und -Standards einen Gemeinsamen regionalen Markt zu schaffen, und sollten sich auf die Überwindung der aufgetretenen Schwierigkeiten konzentrieren, um den Bürgerinnen und Bürgern und Unternehmen der Region die Möglichkeit zu geben, die Chancen dieser Initiative zu nutzen und um die Vorteile der Investitionen im Rahmen des Wirtschafts- und Investitionsplans zu maximieren.
Türkei
Die Türkei ist ein wichtiger Partner der Europäischen Union in wesentlichen Bereichen von gemeinsamem Interesse, u. a. Migration, Terrorismusbekämpfung, Wirtschaft, Handel, Energie und Verkehr.
Der Dialog und die Zusammenarbeit mit der Türkei wurden im Jahr 2021 intensiviert. Der Europäische Rat hat wiederholt erklärt, dass die EU ein strategisches Interesse an einem stabilen und sicheren Umfeld im östlichen Mittelmeerraum und an der Entwicklung kooperativer und für beide Seiten vorteilhafter Beziehungen zur Türkei hat. Er begrüßte die Deeskalation im östlichen Mittelmeerraum, die fortgesetzt werden muss. Auf der Grundlage der Gemeinsamen Mitteilung vom März 2021 über den Stand der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei ist die EU bereit, mit der Türkei auf abgestufte, verhältnismäßige und umkehrbare Weise Verbindungen aufzubauen, um die Zusammenarbeit in einer Reihe von Bereichen von gemeinsamem Interesse zu intensivieren, sofern die derzeitige Deeskalation anhält und die Türkei in einen konstruktiven Dialog eintritt, sowie vorbehaltlich der festgelegten Bedingungen. Im Falle erneuter einseitiger Handlungen oder Provokationen, die gegen das Völkerrecht verstoßen, wird die EU alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente und Optionen nutzen, um ihre Interessen und die Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu verteidigen. Von der Türkei wird erwartet, dass sie die Verhandlungen über eine gerechte, umfassende und tragfähige Lösung der Zypernfrage im Rahmen der Vereinten Nationen aktiv unterstützt.
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben bestätigt, dass der Dialog über Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte nach wie vor integraler Bestandteil der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei ist. Die ernsten Bedenken der EU hinsichtlich der anhaltenden Verschlechterung in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Unabhängigkeit der Justiz wurden von der Türkei nicht glaubhaft ausgeräumt. Die Türkei muss der Umkehrung dieses negativen Trends Priorität einräumen und tätig werden, um gegen die Schwächung des Prinzips der gegenseitigen Kontrolle im politischen System vorzugehen. Bei der Umsetzung der Erklärung EU-Türkei vom März 2016 wurden weiterhin Ergebnisse erzielt, und die Türkei spielte nach wie vor eine Schlüsselrolle beim Umgang mit der Migration entlang der östlichen Mittelmeerroute und der Aufnahme der weltweit größten Flüchtlingsbevölkerung. Die EU begrüßt die Ratifizierung des Pariser Klimaschutzübereinkommens durch die Türkei und sieht einer Zusammenarbeit mit der Türkei bei der Umsetzung des europäischen Grünen Deals erwartungsvoll entgegen.
Weiteres Vorgehen
Es ist nun Sache des Rates, die heute von der Kommission vorgelegten Empfehlungen zu prüfen und über die nächsten Schritte zu entscheiden.
Hintergrund
Die derzeitige Erweiterungsagenda betrifft die Partner im Westbalkan und die Türkei.
Beitrittsverhandlungen wurden bereits mit der Türkei (2005), Montenegro (2012) und Serbien (2014) aufgenommen. Im März 2020 haben die Mitgliedstaaten einstimmig die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien beschlossen. Bosnien und Herzegowina (Antrag auf Beitritt zur EU im Februar 2016) und das Kosovo (Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen in Kraft seit April 2016 ) sind potenzielle Beitrittskandidaten.
Der EU-Beitrittsprozess beruht nach wie vor auf festen Kriterien, einer fairen und strikten Konditionalität sowie auf dem Grundsatz der Beurteilung nach den eigenen Leistungen. Der EU-Beitritt erfordert die Durchführung komplexer Reformen, um die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu erfüllen und die zahlreichen Möglichkeiten der EU-Mitgliedschaft nutzen zu können. Damit der Prozess voranschreiten kann, müssen die Beitrittskandidaten vorrangig dafür sorgen, dass sie echte und nachhaltige Ergebnisse in den folgenden entscheidenden Bereichen erzielen: Rechtsstaatlichkeit, Justizreform, Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, Sicherheit, Grundrechte, Funktionieren der demokratischen Institutionen und Reform der öffentlichen Verwaltung sowie wirtschaftliche Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit.
Ferner ist es wichtig, dass weitere Fortschritte bei der Aussöhnung, den gutnachbarlichen Beziehungen und der regionalen Zusammenarbeit erzielt werden.
Bei der Berichterstattung im Rahmen des diesjährigen Erweiterungspakets werden auch die Vorschläge der überarbeiteten Beitrittsmethodik weiter umgesetzt, die in der von den Mitgliedstaaten im März 2020 gebilligten Mitteilung der Europäischen Kommission „Stärkung des Beitrittsprozesses – Eine glaubwürdige EU-Perspektive für den westlichen Balkan“ dargelegt sind.
In der überarbeiteten Beitrittsmethodik liegt der Schwerpunkt noch stärker auf grundlegenden Reformen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Wirtschaft und Funktionsweise der demokratischen Institutionen, Meinungsfreiheit, Medienfreiheit und Medienpluralismus sowie öffentliche Verwaltung. Die Reformen sind nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die Vorbereitung der Kandidatenländer und potenziellen Kandidaten auf die Erfüllung der Beitrittsvoraussetzungen. Die Fähigkeit und der politische Wille der Erweiterungsländer, sich auf diese Reformen zu konzentrieren und sie voranzutreiben, sind für ihre EU-Integration von zentraler Bedeutung.
Die Verhandlungskapitel sind in sechs thematischen Clustern zusammengefasst, was eine breiter angelegte themenbezogene Zusammenarbeit mit den Partnern ermöglicht. Die Mitgliedstaaten wurden stärker in die Vorbereitung des Pakets einbezogen. Sie wurden während des Bewertungsprozesses konsultiert und lieferten – unter anderem über ihre Botschaften vor Ort – Beiträge und Fachwissen. Die Berichte für 2021 enthalten auch Bewertungen des öffentlichen politischen Engagements der Behörden für das strategische Ziel des EU-Beitritts.
Das neue Instrument für Heranführungshilfe (IPA III), das am 15. September mit einem Budget von über 14 Mrd. EUR angenommen wurde, stellt eine solide Investition in die Zukunft der Erweiterungsregion dar und wird es der EU ermöglichen, die notwendigen Mittel bereitzustellen, um die Durchführung wichtiger politischer, institutioneller, sozialer und wirtschaftlicher Reformen zu unterstützen, die auf die Einhaltung der EU-Standards und eine schrittweise Angleichung an die Regeln und Strategien der EU abzielen.
EU-Kommission / 20.10.2021