Die Seenotrettungsorganisation SOS-Mediterranee hat eine Bilanz der Ereignisse auf und um die zentrale Mittelmeerroute für den Zeitraum vom 29. September bis 12. Oktober veröffentlicht. Obwohl die Bilanz keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, zeichnet sie ein erschreckendes Bild von der Situation in Libyen und auf dem Weg in die EU.
Die NGO schreibt: „In den vergangenen zwei Wochen wurden mehrere Havarien dokumentiert. Außerdem scheint es zu mehreren undokumentierten Schiffsunglücken gekommen zu sein. Darauf deuten Leichen von Schutzsuchenden, die an Land gespült oder aus dem Meer geborgen wurden hin. Unterdessen stieg die Zahl der Pushbacks bzw. Pullbacks rapide an. Am 30. September wurden 91 Personen zwangsweise nach Tripolis zurückgeschleppt. Am 2. Oktober wurden ebenfalls 89 Personen zwangsweise zurückgebracht, unter ihnen zwei Verstorbene. 40 weitere Personen werden nach Angaben des UNHCR vermisst.
Am 3. Oktober wurden 500 Menschen mit Gewalt von der sogenannten libyschen Küstenwache nach Libyen zurückgebracht. Am 6. Oktober wurden die Leichen von mindestens 17 Personen an der libyschen Küste angespült. Am 11. Oktober kam es erneut zu einem Unglück bei dem mindestens 15 Schutzsuchende ertranken. 177 wurden in die libyschen Lager zurückgeschleppt.
5.152 Schutzsuchende bei Razzia inhaftiert
In Libyen wurden am 1. Oktober 5.152 Schutzsuchende bei Razzien festgenommen und in Gefangenenlager gebracht. Immer wieder kommt es zu extralegalen Hinrichtungen in den Gefangenenlagern. Die Vereinten Nationen berichten von schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den libyschen Haftlagern.
Der UNCHR berichtet, dass bei den Razzien Unterbringungen von Schutzsuchenden verwüstet wurden und die Behörden Panik und Angst unter den Menschen in der Hauptstadt verbreiteten. In dem Bericht heißt es: „Viele, darunter auch unbegleitete Kinder und junge Mütter, die ihre Unterkünfte verloren hatten und nun obdachlos sind, haben sich an UNHCR-Mitarbeiter und Partner im Community Day Centre (CDC) gewandt und um dringende Hilfe gebeten.“ Aufgrund der eskalierenden Spannungen musste den UNHCR jedoch den regulären Betrieb des Zentrums vorübergehend einstellen.
Die UN-Unterstützungsmission in Libyen (UNSMIL) forderte daraufhin die libyschen Behörden erneut auf, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen zu beenden und die am stärksten gefährdeten Personen, insbesondere Frauen und Kinder, unverzüglich freizulassen.“
UN: „Verbrechen gegen Menschlichkeit in libyschen Haftlagern“
Am 4. Oktober veröffentlichte eine unabhängige Untersuchungskommission unter Leitung des UN-Menschenrechtsrats einen Bericht, in dem es heißt, dass in Libyen seit 2016 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. „Die Gewalt in libyschen Gefängnissen hat ein solches Ausmaß und einen solchen Organisationsgrad, dass sie möglicherweise auch auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinausläuft […] Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge sind auf See, in Haftanstalten und in den Händen von Menschenhändlern einer ganzen Reihe von Misshandlungen ausgesetzt.“
Sechs Tote im Mabani-Gefangenlager
Am 9. Oktober wurden im Mabani-Gefangenenlager, in das 4.187 Menschen nach den Razzien vom 1. Oktober interniert worden waren, sechs Menschen getötet und mindestens 24 weitere verletzt, so die UN-Migrationsorganisation IOM. Bewaffnete Wachen schossen auf die Menschen die versucht hatten, zu fliehen. Die IOM verurteilte diesen Angriff: „Die Anwendung von übermäßiger Gewalt, die oft zum Tod führt, ist in libyschen Haftanstalten an der Tagesordnung“, erklärte Federico Soda, der Missionschef der IOM in Libyen: „Einige unserer Mitarbeiter, die Zeugen dieses Vorfalls waren, berichten von verletzten Migranten, die in Blutlachen auf dem Boden lagen. Wir sind erschüttert über diesen tragischen Verlust von Menschenleben.“
Nach Angaben der IOM werden fast 10.000 Männer, Frauen und Kinder unter erbärmlichen Bedingungen in offiziellen Haftlagern festgehalten, zu denen humanitäre Helfer nur begrenzt und oft gar keinen Zugang haben.
EU liefert Patrouillenboote an Libyen
Trotz dieser jüngsten Ereignisse wird die Europäische Kommission neue Patrouillenboote der „P150″-Klasse an die sogenannte libysche Küstenwache liefern und die Unterstützung der kriminellen Miliz fortsetzen.
Titelbild: Fabian Mondl / SOS Mediterranee