Die Rettung afghanischer Journalistinnen und Journalisten durch die Bundesregierung geht weiter zu schleppend voran. Reporter ohne Grenzen (RSF) erinnert daran, dass eine zu langsame Bearbeitung Menschenleben kosten kann. Problematisch sind vor allem der Umgang mit den engen Familienangehörigen der Medienschaffenden, die Schließung der Liste schutzbedürftiger Personen, obwohl RSF weiterhin täglich Hilferufe erreichen und sich die Sicherheitslage vor Ort laut Gesprächen mit Betroffenen weiter verschlechtert hat, und Schwierigkeiten bei der Aufnahme in Deutschland.
„Die Zeit drängt, und noch offene, grundsätzliche Entscheidungen müssen vor der Wahl getroffen werden, da ab dem 27. September erst einmal eine geschäftsführende Regierung übernimmt”, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Ohne schnelle und unbürokratische Unterstützung lassen wir afghanische Journalistinnen und Journalisten im Stich, die erst kürzlich in einem dringenden Appell die internationale Gemeinschaft um Hilfe gebeten haben.”
RSF kritisiert insbesondere die weiter unklaren Aussagen der Bundesregierung dazu, ob lediglich die Kernfamilien der betroffenen Journalistinnen und Journalisten aufgenommen werden können oder die Zusage auch darüber hinausgeht. Als Kernfamilie zählt der Partner oder die Partnerin sowie Kinder unter 18 Jahren. Eltern gehören nicht dazu. RSF erinnert daran, dass nicht nur einzelne Medienschaffende und ihre Kernfamilien, sondern in der Regel der ganze Haushalt gemeinsam gefährdet ist. Das Risiko für die Familie kann sogar steigen, wenn die Taliban, die teils von Haus zu Haus gehen, die gesuchte Person nicht antreffen.
Auf der von RSF an das Auswärtige Amt übermittelten Namensliste mit besonders gefährdeten Medienschaffenden steht zum Beispiel eine junge Investigativjournalistin, die immer wieder gebeten wurde, ohne Eltern und Schwester auszureisen und schon hätte ausgeflogen werden können, aber ohne ihre Familie Afghanistan nicht verlassen kann. Zu RSF sagte die Journalistin, die aus Sicherheitsgründen anonym bleibt, dass ihr Beruf als Journalistin ihre Familie gefährde und sie Angst habe, ihnen würde etwas zustoßen, wenn sie ihre Verwandten verließe.
Liste wird trotz sich verschlechternder Sicherheitslage geschlossen
Nicht nachvollziehbar bleibt die Entscheidung, die Liste des Auswärtigen Amtes an das Bundesinnenministerium (BMI) zu „schließen“, wodurch nach einem bestimmten Stichtag keine Fälle mehr aufgenommen werden können. Noch immer erreichen RSF täglich verzweifelte Hilferufe afghanischer Journalistinnen und Journalisten, die es nicht geschafft haben, mit einem Evakuierungsflug aus Kabul gerettet zu werden oder in Drittstaaten Gefahr laufen, aufgegriffen und nach Afghanistan zurückgeschickt zu werden.
Warum die Entscheidung problematisch ist, zeigen die Gespräche von RSF mit den betroffenen Journalistinnen und Journalisten. Demnach hat sich die Sicherheitslage vor Ort massiv verschlechtert und die Taliban suchen intensiv nach Personen. Auch die finanziellen Schwierigkeiten für Medienschaffende durch ein fehlendes Einkommen und steigende Preise nehmen zu. Die psychische Belastung ist für viele kaum noch auszuhalten und die Zahl der Suizidversuche steigt.
Erst am Montag haben bewaffnete Männer den Journalisten Mohammad Ali Ahmadi in Kabul angegriffen und schwer verletzt. RSF dokumentiert Fälle einiger Journalistinnen und Journalisten, die von den Taliban bedroht, teils misshandelt und zwischenzeitlich festgehalten wurden. Die Organisation weist darauf hin, dass viele Übergriffe in Kabul gemeldet werden, wo die Taliban unter internationaler Beobachtung stehen. In den Provinzen fernab der Hauptstadt, aus denen kaum noch unabhängige Nachrichten dringen, ist die Situation vermutlich noch viel dramatischer. In einer der Provinzen wurde laut RSF-Informationen am Mittwoch ein Radio- und TV-Journalist von den Taliban bedroht und verprügelt. Er liegt im Krankenhaus. Aus Sicherheitsgründen bleiben Ort, Identität und Redaktion des Betroffenen anonym.
Erste Aufnahmezusagen für RSF-Liste
Erfreulich ist zwar, dass das Bundesinnenministerium inzwischen entschieden hat, 2600 besonders schutzbedürftige Personen und ihren Familien Aufnahmezusagen auszustellen. Zudem stehen offenbar alle von RSF übermittelten Fälle auf dieser Liste. Jedoch ist auch hier unklar, ob die Zusage auch über die Kernfamilien der Medienschaffenden hinausgeht. Dazu hat die Organisation widersprüchliche Auskünfte erhalten. Auch geht die Benachrichtigung der Betroffenen nur schleppend voran. Die Organisation erreichen zudem erste Anzeichen dafür, dass über diese Aufnahmezusagen hinaus für Menschen aus Afghanistan keine humanitären Visa für Deutschland mehr ausgestellt werden könnten und stattdessen auf existierende Menschenrechts-Schutzprogramme oder Einzelfalllösungen wie Stipendienzusagen ausgewichen werden sollte.
RSF hat in den vergangenen Wochen eine mehrmals aktualisierte Namensliste mit zuletzt mehr als 150 hoch gefährdeten Medienschaffenden an das Auswärtige Amt übermittelt. Zehn von ihnen sind bereits in Deutschland. Vier sind in Drittländern mit dem Ziel, dort zu bleiben, weitere 13 wollen von dort weiter nach Deutschland. Mindestens 125 Medienschaffende der Liste warten noch in Afghanistan auf ihre Ausreise. 25 von ihnen versucht RSF derzeit eigenmächtig und auf eigene Kosten in Minibussen und Flügen in Nachbarländer in Sicherheit zu bringen, damit sie bei den dortigen Botschaften Visa beantragen können.
Nach Übermittlung der Liste an das Auswärtige Amt hat RSF weitere 88 Fälle verifiziert, mehrere hundert weitere Anfragen konnten noch nicht bearbeiten werden. RSF wird trotz „Schließung“ der Liste durch das Auswärtige Amt und BMI weiterhin alle Anfragen prüfen und sie auf die eigene Liste der Organisation setzen.
RSF kritisiert zudem die mangelnde Transparenz und Kommunikation bei der Aufnahme in Deutschland. So sollten Medienschaffende zum Beispiel anfangs irrtümlicherweise in ein Asylverfahren gezwungen werden. Die Koordination zwischen deutschen Behörden und Botschaften in Drittländern, in die Journalistinnen und Journalisten auf eigene Faust geflüchtet sind, muss verbessert werden, um etwa zu berücksichtigen, wo die Betroffenen bereits Familie und journalistische Netzwerke haben. RSF fehlt weiterhin eine zentrale Ansprechperson beim BMI und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
RSF / 23.09.2021