Bei ihrem Türkei-Besuch am Dienstag haben EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen Neustart der Beziehungen angeboten. Das Gipfeltreffen war bereits im Vorfeld von zahlreichen Mitgliedern des EU-Parlaments und des Bundestags als falsches Signal kritisiert worden. In einem Brief von Abgeordneten verschiedener Fraktionen des Europaparlaments hieß es etwa, „Erdoğans neue Türkei ist ein zunehmend autokratisches Land, das wir nur schwer als legitimen Partner anerkennen können.” Der Volkskongresses Kurdistan (KONGRA-GEL) beschuldigte am Mittwoch die EU, dass die Erdogan-Regierung nur mit europäischer Rückendeckung an der Macht bleiben und den Krieg in Kurdistan fortsetzen kann.
Auch die Demokratische Partei der Völker (HDP) bewertet das Gipfeltreffen als Rettungsanker zur Unterstützung von Erdoğan, seinen ultranationalistischen Verbündeten und seiner antidemokratischen und repressiven Politik. In einer Erklärung der außenpolitischen Sprecher*innen Feleknas Uca und Hişyar Özsoy heißt es:
Wir haben die internationale Gemeinschaft regelmäßig über die Politik der türkischen Regierung informiert, die seit 2015 die universellen demokratischen Werte und Menschenrechte in der Türkei untergräbt. Der mitternächtliche Austritt aus der Istanbul-Konvention per Präsidialdekret und das Schließungsverfahren gegen die HDP sind nur die jüngsten Schritte, die unternommen werden, um die letzten Krümel von Demokratie und Menschenrechten zu zerstören. Wir beobachten akribisch, wie die EU-Führung versucht, die Beziehungen zur Türkei mit einer „positiven Agenda“ zu „resetten“, obwohl die Regierung Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte eindeutig zunehmend zerstört.
„Die HDP unterstützt den EU-Beitritt der Türkei“
Wie wir in verschiedenen internationalen Plattformen deutlich gemacht haben, unterstützt die HDP voll und ganz den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, der sicherlich für beide Seiten von Vorteil sein wird. Eine Türkei, die die universellen demokratischen Prinzipien, die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit annimmt, wird ein starkes Mitglied in der EU sein.
Wie die Verantwortlichen der EU jedoch wissen, ist die Türkei weit davon entfernt, ein echter demokratischer Staat zu sein. Im Gegenteil, es ist ein Land, in dem grundlegende Menschenrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit tagtäglich verletzt werden. Die Mehrheit der Menschen im Land fühlt sich unsicher; Oppositionspolitiker, Vertreter der Zivilgesellschaft, Menschenrechtsaktivisten, Anwälte, Ärzte, Journalisten, Akademiker, Studenten oder jeder, der es wagt, die Regierung zu kritisieren, werden als Terroristen oder Verräter abgestempelt und hart bestraft. Es ist ein Land, in dem gewählte Parlamentarier und Bürgermeister mit gefälschten Anklagen hinter Gittern gehalten werden, und in dem es nur eine Frage der Zeit ist, bis andere sich ihnen im Gefängnis anschließen.
Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass die Mehrheit der Menschen in der Türkei, die für bessere Beziehungen zur Europäischen Union sind, dennoch „zutiefst besorgt“ über das hochrangige Treffen zwischen Präsident Erdoğan und der EU-Spitze als möglichen Rettungsanker zur Unterstützung von Präsident Erdoğan, seinen ultranationalistischen Verbündeten und seiner antidemokratischen und repressiven Politik sind.
„Ohne demokratische Standards keine Verbesserung“
Die HDP ist der Meinung, dass sich die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU verbessern können und sollten, und wir sind bereit, diese Bemühungen auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen. Wir denken, dass Schlüsselfragen wie die Modernisierung der Zollunion parallel zu Verbesserungen in den Bereichen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stattfinden müssen. Ohne gewisse Standards bei Demokratie und Rechten kann es keine nachhaltige wirtschaftliche Verbesserung in der Türkei geben.
Trotz der Erklärungen der EU-Führung nach dem Treffen, wie sehr sie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit schätzen, vermuten wir, dass eine vorwiegend wirtschaftliche, geopolitische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit im transaktionalen Rahmen einer privilegierten Partnerschaft diese Werte ignorieren wird. Und das Ignorieren dieser Werte würde nicht nur die Möglichkeiten für eine demokratische Zukunft der Türkei beschädigen, sondern auch die EU selbst als eine Union, die ihre eigenen Gründungsprinzipien ignoriert oder ihnen grundlegend widerspricht.
„Falsche und gefährliche Signale“
Wir stimmen völlig mit dem Ständigen Berichterstatter des Europäischen Parlaments für die Türkei, Nacho Sánchez Amor, und dem Vorsitzenden der parlamentarischen Delegation EU-Türkei, Sergey Lagodinsky, überein, die in ihrer gemeinsamen Presseerklärung am 24. März Folgendes betonten:
Die Botschaft, die derzeit an die türkische Regierung gesendet wird, ist falsch und gefährlich: Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind für die EU weniger relevant als geopolitische Interessen. Diese Art der Kommunikation schadet der Glaubwürdigkeit und dem internationalen Image der EU ernsthaft und vermittelt dem großen Teil der pro-europäischen und pro-demokratischen türkischen Bürger, die sich immer noch hoffnungsvoll der EU zuwenden, eine entmutigende Botschaft. Wir unterstützen nachdrücklich alle Bemühungen, die auf eine Deeskalation der Spannungen im östlichen Mittelmeerraum und zwischen der EU, ihren Mitgliedstaaten und der Türkei abzielen, da wir fest daran glauben, dass wir die bestmöglichen Beziehungen zur Türkei haben müssen. Allerdings, und insbesondere weil die Türkei nicht nur ein Drittland, sondern ein Beitrittskandidat zur EU ist, kann dies nicht um jeden Preis angestrebt werden. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit dürfen nicht auf dem Altar der Realpolitik geopfert werden.
Die Menschen in der Türkei haben mehr verdient, als als Bürger eines „Geschäftspartners“ behandelt zu werden, und jeder Bürger hat bessere Standards in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte verdient. Natürlich sollte die EU versuchen, die Beziehungen zur Türkei zu verbessern, aber die Völker der Türkei sollten die Art und Weise, wie dies geschieht, nicht als Ermutigung für die Politik der Unterdrückung empfinden, mit der sie täglich konfrontiert sind. Unnötig zu sagen, dass die Wahrnehmung immer und schon ein konstitutiver Teil der Realität ist. Wir fordern die EU auf, mehr zu tun als besorgte Erklärungen abzugeben und die zentrale Bedeutung von Menschenrechten und Demokratie als Schlüssel zur „positiven Agenda“ zu überdenken, die sie mit der Türkei – einem Kandidatenland – verfolgen will.
(ANF)